NOS-Modellierungen – Ein theoretischer Konflikt mit fehlender empirischer Basis

Authors

  • Laura Arndt Pädagogische Hochschule HeidelbergFakultät für Natur- und Gesellschaftswissenschaften Chemie
  • Tim Billion-Kramer
  • Markus Wilhelm
  • Markus Rehm

DOI:

https://doi.org/10.25321/prise.2020.994

Keywords:

Scientific Literacy, Nature of Science, Social Participation

Abstract

ABSTRACT
Die verstärkte Orientierung am Bildungsziel der naturwissenschaftlichen Grundbildung und einem zugrundeliegenden angemessenen Wissenschaftsverständnis wird in den letzten Jahren zunehmend bemerkbar. Hieraus resultiert einerseits ein Konsens in der aktuellen Nature of Science (NOS)-Debatte: Ein umfassendes Wissenschaftsverständnis ermöglicht, im Sinne der naturwissenschaftlichen Grundbildung, eine persönliche und gesellschaftliche Meinungsbildung und Entscheidungsfindung bezüglich naturwissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Dazu muss verstanden werden, wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse generiert, ausgehandelt, medial übersetzt und veröffentlicht werden. Andererseits erzeugt die gleiche Debatte Konflikte verschiedener NOS-Lager darüber, welche NOS-Modellierung die theoretischen Grundlagen für ein solch umfassendes Wissenschaftsverständnis aufzeigen kann. Dabei stehen sich der klassische Minimalkonsens- und der Whole Science-Ansatz mit konkurrierenden NOS-Modellierungen gegenüber. Whole Science-Vertreterinnen und -Vertreter bestreiten, dass ein auf vereinfachten Basisprinzipien beruhendes, abstrahiertes Verständnis von Naturwissenschaft die Anforderungen einer zur Partizipation befähigenden naturwissenschaftlichen Grundbildung erfüllen kann. Andersherum wird der Whole-Science Ansatz von den Verfechterinnen und Verfechtern des Minimalkonsens-Ansatzes als diffus und wenig fassbar problematisiert. Zudem hat das Desiderat valider Messinstrumente für die Whole Science-Perspektive zur Folge, dass sich jegliche Kritik und Diskussion auf einer theoretischen Ebene vollziehen, da bezüglich Nature of Whole Science (NOWS) kaum empirische Daten vorliegen. In dieser Arbeit werden beide theoretische Positionen vorgestellt, Kritikpunkte beleuchtet und ein gemeinsamer Weg gesucht. Als Klärungsansatz soll die Entwicklung eines ersten Erhebungsinstrumentes für die Whole Science-Perspektive angestrebt werden, um empirische Daten zur Klärung der Frage zu erhalten, ob der holistische Charakter von Naturwissenschaft mehr darstellt, als die Summe der NOS-Aspekte des Minimalkonsenses.

Hintergrund: Die Naturwissenschaftsdidaktik diskutiert aktuell, welche Modellierung von Nature of Science (NOS) geeignet ist, um ein angemessenes Wissenschaftsverständnis zu fördern. Die klassische Modellierung von NOS als Minimalkonsens wird in dieser Debatte von Vertreterinnen und Vertretern alternativer NOS-Modellierungen kritisiert.

Ziel: Konkret sollen die Positionen des Minimalkonsens-Ansatzes nach Lederman et al. und des alternativen Nature of Whole Science-Ansatz (NOWS-Ansatz) nach Allchin untersucht werden. Schnittmengen und positionsspezifische Stärken und Schwächen sollen identifiziert werden. Dies liefert die theoretische Grundlage für die Entwicklung eines vergleichenden Testinstrumentes, das beide Ansätze in den Blick nimmt. Letztendlich soll empirisch die Frage untersucht werden, ob der holistische Charakter von Naturwissenschaft des NOWS-Ansatzes mehr darstellt, als die Summe der NOS-Aspekte des Minimalkonsenses.

Design und Methode: Minimalkonsens- und Whole Science-Ansatz werden kontrastiert; anschließend werden Rahmenbedingungen zur Operationalisierung und Erhebung definiert.

Ergebnisse: Trotz positionsspezifischer Unterschiede ergeben sich fruchtbare Schnittmengen beider Ansätze. Diese können genutzt werden, um ein vergleichendes Testinstrument zu entwickeln und das Verhältnis beider Konstrukte zu prüfen.

Schlussfolgerung/Bedeutung für die Lehrpraxis und künftige Forschung: Anhand einer Stichprobe N > 150 soll zukünftig das entwickelte Testinstrument eingesetzt und über eine konfirmatorische Faktorenanalyse sowie die Berechnung von Strukturgleichungsmodellen das Verhältnis beider Konstrukte geprüft werden. Daraus ergeben sich sowohl Erkenntnisse zum Konstrukt von NOS für künftige Forschung, als auch Hinweise zur Vermittlung von NOS in Schule und Hochschule.

Schlüsselwörter: Wesen der Naturwissenschaft, Gesellschaftliche Teilhabe, Theoriebildung


Received: March 2020. Accepted: June 2020.

Author Biographies

Laura Arndt, Pädagogische Hochschule HeidelbergFakultät für Natur- und Gesellschaftswissenschaften Chemie

Chemie

Doktorandin

Tim Billion-Kramer

University of Education Heidelberg, Germany

Forscherstation Klaus-Tschira-Kompetenzzentrum für frühe naturwissenschaftliche Bildung gGmbH, Germany

Markus Wilhelm

Universitiy of Teacher Education Lucerne, Switzerland

Markus Rehm

University of Education Heidelberg, Germany

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Published

2020-08-03

Issue

Section

Articles